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Über die Unfähigkeit zum Diskurs, das Tempolimit und den Traum einer demokratisch-gebändigten Technokratie

Zeit meines Lebens war ich mit Willy Brandt einig. Wir sollten “mehr Demokratie wagen!” Je älter ich werde, desto häufiger zweifle ich. Nicht an der Idee der Demokratie, aber an ihrer real-existierenden Darreichungsform. Und ich zweifle an ihrer Fähigkeit vernünftige Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls zu produzieren. Wann und wie ist es eigentlich passiert, dass der Begriff und die Vorstellung einer “Technokratie” so diskreditiert wurde?

Flüchtige Gedanken zur überfälligen Rehabilitierung der Technokratie

Es ist eigentlich gleichgültig, welche Debatten man als Beispiel heranzieht. Zuletzt wurde und wird über die Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxid und über Sinn und Unsinn eines generellen Tempolimits auf Autobahnen gestritten. Ich habe nichts gegen den Streit. Überhaupt nichts gegen den gepflegten öffentlichen Diskurs, den Austausch von Argumenten. Doch genau das ist der Punkt. Zwischen Argument, Meinung und wehleidigem Lamento wird überhaupt nicht unterschieden. Alles wird als Debattenbeitrag ernstgenommen. Und die Wissenschaft? Sie ist zu leise, Zaungast der Debatte, mit sich selbst beschäftigt…

Da dringt aus einem Expertengremium der Vorschlag eines Tempolimits an die Öffentlichkeit. Eine Begrenzung auf 130km/h diene dem Klimaschutz und senke die Zahl der Verkehrsopfer. Eine Woche später gibt CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zu Protokoll, es handele sich um “eine Phantomdebatte”, der es v.a. darum ging “Autofahrer zu quälen und zu bestrafen”. Verkehrsminister Scheuer verweist darauf, dass ein Tempolimit “gegen den Menschenverstand” verstoße und kritisiert den “Ansatz der ständigen Gängelung”.

Wenn Argumente durch Meinung ersetzt werden

Wann ist es aus der Mode gekommen, sich mit wirklichen Argumenten auseinanderzusetzen? Wieso erhalten Politiker Applaus (in den Onlineforen genauso wie in den Kommentarspalten der Tageszeitungen), wenn sie stichhaltige Argumente mit herbeifantasierten Vorwürfen wegwischen? Werden Autofahrer ebenso “gequält”, wenn sie bei Rot an der Ampel stehenbleiben müssen? Weshalb ist Tempo 50 innerorts nicht ebenso eine “Gängelung”? Wie erklären AKK, Scheuer und Co. den Masochismus fast aller anderen Länder, die wir doch sonst eher für ihr Laissez-faire bewundern. Schneller als 120 oder 130km/h fährt in Frankreich oder Italien niemand.

Aber das Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist offensichtlich eine teuflische Idee!? Und eine sachliche Auseinandersetzung mit den Zahlen (und guten Untersuchungen zum Thema) ist wohl zu viel verlangt? Das Statistische Bundesamt hat solche Zahlen. Die jüngsten Werte für 2017 lesen sich wie folgt:

Im Jahr 2017 kam es zu 20 928 Unfällen mit Personenschaden auf Deutschlands Autobahnen. Dabei starben 409 Menschen, 5 974 wurden schwer verletzt. Unter den Getöteten waren 215 Pkw-Insassen, 101 Insassen von Güterkraftfahrzeugen sowie 29 Fußgängerinnen und Fußgänger. Eine der Hauptunfallursachen auf Autobahnen ist zu schnelles Fahren. Im Jahr 2017 war mehr als ein Drittel (7 194) der Autobahnunfälle darauf zurückzuführen.

Ein Drittel der Unfälle hat also direkt mit der hohen Geschwindigkeit zu tun. Nehmen wir nur an, dass sich bei einem generellen und kontrollierten (!) Tempolimit die Hälfte aller geschwindigkeitsinduzierten Autobahnunfälle vermeiden ließe. Dann stehen folglich 1/6 der Opfer zur Disposition.

Das sind jährlich 65 Menschen, die nicht auf einer deutschen Autobahn sterben. Das sind 1.000 Menschen, denen schwerste Verletzungen erspart bleiben.

Auf zehn Jahre sind das:

  • 650 Mütter, Väter, Arbeitskollegen, Kinder, Freunde, die am Leben bleiben könnten, wenn wir uns heute auf ein Tempolimit von 130km/h verständigen könnten
  • 10.000 Menschen, die ein unversehrtes Leben führen könnten (ohne das Trauma eines Verkehrsunfalls und die körperlichen Folgen schwerer Verletzungen)

Wenn solche Zahlen in der öffentlichen Debatte quasi negiert werden, weil Politiker ungestraft etwas von “Gängelung” erzählen, ohne dafür geohrfeigt oder wenigstens ausgelacht zu werden, solange zweifle ich an der Geschichte vom Volk, seiner Souveränität und der Chance vernünftige Entscheidungen zu produzieren.

Und ich träume von einer gebändigten Technokratie. Das bestimmt nicht in einer orthodoxen technokratischen Variante, also nicht im Sinne eines naiven Glaubens an die (technische) Machbarkeit aller Dinge. Aber doch bitte als Privilegierung von rationalen Argumenten im Diskurs. Mitsamt der Bereitschaft den Experten zuzuhören und die jammerlappigen Reflexe mal wegzulassen.

Denn, nein!, es gibt kein Menschenrecht auf ein durchgedrücktes Gaspedal auf öffentlichen Straßen. Nicht einmal in Deutschland!

 

Zahlen & Fakten zum Nachlesen:

 

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